T. Maissen: Schweizer Heldengeschichten

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Titel
Schweizer Heldengeschichten – und was dahintersteckt, Baden.


Autor(en)
Maissen, Thomas
Erschienen
Baden 2015: hier + jetzt, Verlag für Kultur und Geschichte
Anzahl Seiten
234 S.
Preis
URL
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Séverine Décaillet

Der bekannte Historiker Thomas Maissen hat pünktlich zum Jubiläumsjahr 2015 (Morgarten 1315, Marignano 1515, Wiener Kongress 1815) im März dieses Jahres einen Band veröffentlicht, mit welchem er der einseitigen Instrumentalisierung der Schweizer Geschichte durch die national-konservative Politik entgegenzutreten versucht. Indem diese heute ganz exklusiv die Schweizer Vergangenheit politisch besetzt, wird in einer breiten Öffentlichkeit ein historisches Selbstbild zementiert, welches längst nicht mehr dem wissenschaftlichen Forschungsstand entspricht. Dies wird hauptsächlich über den Rekurs auf die grossen Mythen oder eben Heldengeschichten getan, die auch für den Historiker als «Zugänge zur Gedankenwelt und zur Geschichtskultur der Vergangenheit» (7) von Interesse sind. Aber sie sind «letztlich unhistorisch» (10); sie eröffnen zwar Zugänge zur Geschichte, aber eben nicht zu jener «Epoche, über die sie erzählen, sondern der Zeiten, in denen sie erzählt wurden» (8). Vor allem in nationalkonservativen Kreisen sind Geschichtsmythen wesentlicher Teil des historischen Selbstbildes, sowohl in Bezug auf die individuelle Identität des Schweizers als auch der kollektiven Identität des Schweizer Volkes. Maissen sieht in der Art und Weise, wie die nationalkonservative Politik die Vergangenheit der Schweiz präsentiert, eine «Komplexitätsreduktion» (8), welche die Schweizer Geschichte auf «zwei Phasen des heldenhaften Widerstandes gegen ausländische Bösewichte» (7) reduziert. Anliegen des Historikers Maissen, dessen bekannte Geschichte der Schweiz 2015 bereits in der 5. Auflage erschien, ist es aufzuklären. In einer populären gemeinverständlichen Sprache will er das historische Fachwissen einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich machen. Sein «Büchlein möge [...] als Handreichung dienen, die Argumente auf dem heutigen geschichtswissenschaftlichen Kenntnisstand im politischen Streitgespräch» (14) einzubringen Um «demokratische Streitgespräche und kontroverse Meinungen» (13) zu ermöglichen und somit die «Handlungsoptionen und Gestaltungsmöglichkeiten» (13f) der politischen Gemeinschaft Schweiz zu erweitern, greift Maissen hier das Deutungsmonopol der Nationalkonservativen, genauer hin der Schweizerischen Volkspartei (SVP), an.

Dieses Vorhaben setzt Maissen konkret und pointiert um: Nach der Einleitung folgt eine sorgfältige Einführung zur Geschichtsschreibung der Schweiz, welche zudem die Quellenlage der Schweizer Geschichte umfassend dokumentiert. Hauptteil des Buches bilden die fünfzehn Kapitel der Schweizer Geschichte, eingeteilt nach dem vaterländisch althergebrachten Musterbild, von den «Anfängen» (Der Bund von 1291) bis in die Gegenwart (Die Schweiz – ein Sonderfall?). Jedem Kapitel wird ein bekanntes politisches Aperçu des Übervaters der schweizerischen Nationalkonservativen, Christoph Blocher, vorangestellt. Der mittlerweile durch sein bundesrätliches Amt entschärfte Ueli Maurer schafft es mit seiner Rede am Gedenkanlass «Kappeler Milchsuppe» an den Anfang von Kapitel 4 Ein einzig Volk von Brüdern. Maissen konfrontiert im Folgenden diese Zitate und das darin vermittelte Geschichtsbild mit dem aktuellen historischen Forschungsstand und mit wissenschaftlichem Fachwissen. Damit will Maissen Beihilfe zur Diskussion und Hinterfragung der gängigen Geschichtsbilder leisten und die Geschichtswissenschaft als «Korrektiv» (10) zur «politische[n] und volkstümliche[n] Deutung der Geschichte» (11) ins Feld zu führen.

Nationalkonservative Politik in der Schweiz bedeutet das Festhalten an einem «ungewordenen» schweizerischen Wesenskodex, welcher sich mit den Begriffen Freiheit, Unabhängigkeit und Neutralität in den Köpfen von Herr und Frau Schweizer eingebrannt hat. Nicht die Geschichte macht das Wesen, sondern das Wesen die Geschichte. Während mit den Mythen gezeigt werden soll, was ist und schon immer war, bringt die Geschichtswissenschaft die natürliche Prozesshaftigkeit ins Spiel. Maissens Ausführungen offenbaren, dass die Schweiz und ihr Volk nicht als gnadenhafte Schöpfung vom Himmel gefallen sind. Auch sie unterliegen dem dynamischen Werden in der Zeit; auch sie wurden im Konzert der europäischen Staatengemeinschaft zu dem, was sie heute sind. Und was sie morgen sein werden, wird ebenso wenig durch ein unter der Käseglocke verweilendes Schweizer Volk entschieden werden können.

Maissen hat mit seinem Buch sein Ziel erreicht: Bereits vier Monate nach Ersterscheinung wird das Buch in 4. Auflage verkauft. Ebenso wurde es medial sowohl von konservativen und liberalen als auch linken Verlagshäusern ausführlich besprochen. Unzählige Interviews mit Maissen und Blocher, inszenierte Schlagabtäusche zwischen den beiden als kulturelle Abendanlässe, sowie Diskussionsbeiträge Dritter in Printmedien und Fernsehen, verdeutlichen den gelungenen Anstoss der populärpolitischen Debatte seitens des Autors.

Gerade weil Maissen weiss, dass den altüberlieferten Denkmustern, die sich nicht einfach von einem ausgeprägten Nationalgefühl abkoppeln lassen, nicht allein mit wissenschaftlich rationalen Argumenten beizukommen ist, hätte er seine Herangehensweise auch vermehrt daran orientieren dürfen. Obwohl der Autor fern jeglicher Polemik sachlich das nationalkonservative Geschichtsbild demontiert, fördert er meines Erachtens mit den klar definierten Angriffszielen, in Person und Partei, eine Polemisierung in der Sache. Zudem läuft er damit Gefahr, obwohl es dazu keine konkreten Anhaltspunkte gibt, ausgenommen der konkreten Benennung seines Gegenübers, in eine zumindest sehr mittige, wenn nicht gar linke politische Ecke gedrängt zu werden, die es gerade denjenigen, denen das Buch Abhilfe verschaffen soll, verbietet, es zu lesen oder sich ernsthaft damit auseinan¬derzusetzen.

Dazu dürfte zusätzlich noch beitragen, dass der Historiker eben doch, um seiner Absicht der Gegenüberstellung von politischer Diskussion (bei der alle mitreden) und wissenschaftlicher Diskussion (bei der nur wenige Fachleute mitreden) gerecht zu werden, gewisse sprachliche und darstellerische Kompromisse eingehen muss, die es verhindern, ein wirklich gemeinverständliches Werk zu schaffen. Der detaillierte und ausführliche Quellenbezug macht oft ein Zurückblättern, um der Einordnung des Beschriebenen in der historischen Geschichtsschreibung willen, erforderlich, was der Leserfreundlichkeit abträglich ist. Bedauerlich ist auch, dass die Gegendarstellung sich auf rein politische Aspekte beschränkt, womit er sich auf die an seinem Gegner beklagte Komplexitätsreduktion einlässt. Gerade auch durch die wirtschaftlichen, kulturellen und sozialen Beziehungen der Schweiz, die seit jeher trans- und international ausgelegt sind, und das nicht losgelöst von der Politik, werden die Werte Freiheit, Neutralität und Unabhängigkeit in ein gänzlich anderes Licht gerückt.

Die klar zutage tretende Anti-Haltung des Autors gegenüber der nationalkonservativen Aussenpolitik wird auch im Ausblick noch einmal deutlich. Maissen wirft hier unter anderem folgende rhetorischen Fragen auf: «Welche heutige Gesellschaft, die sich als historisch gewachsen sieht, möchte bei der Planung ihrer Zukunft von Mythen abhängen statt von historischem Fachwissen?» oder «Kann es sich eine moderne Gesellschaft aber leisten, dass ihr historisches Selbstverständnis so weit entfernt ist vom Forschungsstand [...]?» (beides 210). Es stellt sich nicht zuletzt auch die Frage, ob es das historische Selbstverständnis einer politischen Gemeinschaft, wie es von den Parteien zuweilen proklamiert wird und auf welches der Autor ebenfalls rekurriert und damit erneut der Komplexitätsreduktion in die Hände spielt, faktisch überhaupt gibt. Selbst wenn das historische Faktenwissen als gemeinsamer Ausgangpunkt dient, werden davon, je nach politischem, wirtschaftlichem und sozialem Gepräge, immer verschiedene Deutungen abgeleitet werden. Und dabei spielt wohl weniger die Frage eine Rolle, wie es war, als vielmehr wie es in Zukunft sein soll.

Zitierweise:
Séverine Décaillet: Rezension zu: Thomas Maissen, Schweizer Heldengeschichten – und was dahintersteckt, Baden, Hier+Jetzt Verlag, 2015. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Religions und Kulturgeschichte, Vol. 109, 2015, S. 430-432.

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